Ich erinnere mich noch gut an die allererste Therapie-Sitzung meines Lebens. Es war Anfang 2021 und ich war echt am Ende. Die Stimmung in meiner Familie war sehr angespannt – Homeoffice und zwei sehr lebhafte Kinder, die pandemiebedingt ebenfalls Zuhause waren, sind keine gute Kombination. Es schaukelte sich immer weiter hoch – es wurde geschrien, Becher flogen, Kleidung wurde wütend im ganzen Haus verteilt… und irgendwann schrie und wütete ich auch.
Und das erschreckte mich zutiefst. Ich wollte doch diejenige sein, die die Familie erdet, diejenige, die sich um alle kümmert und sie bedingungslos annimmt, die Partnerin und Mutter, die alles tragen kann. Und nun gab es nahezu täglich Situationen, in denen mich die Wut überraschte, überrollte, mitriss und irgendwann erschöpft und beschämt wieder ausspuckte. Das sollte aufhören, unbedingt. Also buchte ich ein online-Erstgespräch mit einem Therapeuten.
Der Therapeut war sehr freundlich, erklärte sehr viel und stellte mir schließlich die eine Frage, die mich erschütterte. Woran ich denn merken würde, dass ich wütend werde? Wie würde sich das für mich anfühlen?
Und natürlich hatte ich keine Ahnung, wie es sich anfühlte. Das war ja gerade der Punkt, dass ich es vorher nicht merkte! Und je mehr ich darüber reflektierte, umso klarer wurde mir, dass ich generell keine Ahnung hatte, wie es mir so ging und wie ich mich fühlte. Wie es sich in meinem Körper anfühlte. Ich war irgendwie so sehr damit beschäftigt, darauf zu achten, wie es anderen ging, dass ich nie wirklich darauf geachtet hatte, wie es um mich selbst stand…
Als dann kurz darauf in der Ausbildung zur Psychologischen Beraterin die Dozentin eine Methode vorstellte, mit der man mit sich selbst und seinem Körper wieder in Kontakt kommen könne, war ich entsprechend Feuer und Flamme und sehr neugierig darauf, was dieses Inner Relationship Focusing wohl sei. Ich kaufte mir das empfohlene Buch Focusing – Der Stimme des Körpers folgen von Ann Weiser Cornell, verliebte mich und alles weitere ist Geschichte.:-)
Nun ist es bei weitem nicht so, dass dadurch alles gut war und ist. Die Beziehung zu mir selbst hat sich zwar deutlich verbessert, dennoch spüre ich es meistens noch immer nicht, wenn die Wut in mir aufsteigt. Oder Angst, Verzweiflung oder was auch immer. Was sich geändert hat, ist, dass ich nicht mehr hilflos darin gefangen bin. Wenn ich also höre, dass meine Stimme hart wird, wenn ich zum Schrank gehe und den Löffel hole, um Erdnussbutter in mich hineinzustopfen oder nachts wach im Bett liege und meine Gedanken rasen… dann weiß ich jetzt, was ich tun kann, damit es besser wird. Und das möchte ich mit euch teilen.
Es geht los
Ich nehme Papier und etwas zum Schreiben. Es ist im Grunde egal, was es ist, allerdings habe ich für mich festgestellt, dass ich dafür meinen Füller eindeutig bevorzuge. Ich glaube, weil er mich mit meiner Kindheit verbindet und das hilft. Außerdem ist eine Form von Timer hilfreich, um nicht auf die Uhr schauen zu müssen.
Ich überlege, wieviel Zeit ich verwenden will (in der Regel 10 Minuten), stelle den Timer und schreibe zum Beispiel:
‚Ich nehme mir jetzt 10 Minuten Zeit für mich, weil ich gerade den Eindruck habe, dass es etwas in mir nicht gut geht.‘
Die Formulierung ‚etwas in mir‘ stammt aus dem Focusing und hilft mir dabei, mich von dem, was Erdnussbutter in sich hinein stopfen will, zu lösen, damit ich mich nicht mehr damit identifiziere und mich ihm interessiert zuwenden kann.
Dann halte ich inne und spüre in mich hinein, abwartend und aktiv zugleich. Wie eine Rollenspielerin oder eine Schauspielerin, die sich in einen Charakter hineinversetzt und ihm dabei sein Eigenleben lässt. Oft erklingt dann eine Stimme in meinem Kopf oder ein Bild tritt vor meine Augen.
In diesem Falle höre ich eine Stimme, die sagt:
„Ja, es geht mir gerade schlecht. Ich wünschte, ich hätte den Beitrag nicht geschrieben.“ (Am Vormittag des entsprechenden Tages hatte ich einen Foren-Beitrag geschrieben, von dem ich gehofft hatte, dass er hilfreich ist, der jedoch von mindestens einer Person als übergriffig und besserwisserisch wahrgenommen wurde)
Ich schreibe es auf. Und nun kommt mein persönlicher Focusing-Kniff: Danach wiederhole ich die Botschaft, jedoch wechsle ich dabei die Perspektive. Ich versetze mich nicht mehr in die Stimme hinein, sondern in die Rolle einer mitfühlenden, interessierten Zuhörerin:
„Ja, Du wünschtest, Du hättest den Beitrag nicht geschrieben.“
Die Stimme antwortet (und ich schreibe): „Ja, genau. Er war nicht hilfreich für andere.“
In diesem Moment sehe ich die Sprecherin vor mir. Es ist ein junges Mädchen, das halb versteckt hinter einer Schulbank sitzt und mich mit traurigen Augen ansieht.
Ich wiederhole als Begleiterin: „Ja, Du empfindest es so, dass Dein Beitrag nicht hilfreich war und darüber bist Du traurig.“
Sie antwortet: „Ja, ich dachte, dass sie sich darüber freuen und darüber staunen, was ich weiß.“
Und so geht es weiter. Im Laufe des Gesprächs erfahre ich von ihr, dass sie es in der Schule gelernt hat, dass sich ihre Lehrerinnen freuen, wenn sie zeigt, was sie gelernt hat. Sie lächeln sie dann an, sagen Worte wie „Sehr gut!“ oder hinterlassen lustige Tier-Stempel und ein „Weiter so!“ in ihrem Heft. Und das hat sie verinnerlicht. dass Menschen sich freuen und sie lieb haben, wenn sie zeigt, was sie kann und weiß. Dass dies ein sicherer Weg ist, um sich die Zuneigung von anderen zu sichern.
Deswegen war es ein großer Schreck für sie, dass in diesem Fall die Reaktion eine andere war. Dass die Sicherheit, auf die sie gebaut hat, trügerisch war. Und dass hat sie so sehr verunsichert und überfordert, dass sie sich in die Fressattacke flüchtete.
Schließlich ist die Zeit um und ich bedanke mich und verabschiede mich liebevoll von ihr.
Natürlich ist es damit nicht erledigt. Es ist nur akute erste Hilfe und ich bin mir sicher, dass das Mädchen mir früher oder später wieder in einer Focusing-Sitzung begegnen wird und wir dann das Gespräch fortsetzen werden.
Doch an diesem Tag fühlte ich mich nach dem Schreiben leichter und der Drang, Erdnussbutter zu löffeln, war verschwunden.
Ich und das kleine Mädchen hoffen, dass der Text für Dich hilfreich war. Und nun bin ich neugierig darauf, was Dir hilft, wenn Du merkst, dass Du gerade nicht Du selbst bist. Wenn Du magst, kannst Deinen persönlichen Weg in die Kommentare schreiben oder mir persönlich schicken (julia (at) focusing-reise punkt de).
Viele liebe Grüße,
Julia
2 Antworten auf „Wieder ich selbst werden – in 10 Minuten“
Hey Julia,
toll geschrieben und ein Augenöffner .
Liebe Grüße
Yvonne
Liebe Yvonne,
vielen lieben Dank für den Kommentar, ich hatte mich sehr darüber gefreut… und mir dann vorgenommen, so bald wie möglich darauf zu antworten und es dann im Trubel vergessen.;)
Die Übung finde ich allerdings immer noch toll und sie hat mir gerade dann, als es sehr… herausfordernd für mich wurde, sehr geholfen. Mittlerweile habe ich jemandem, dem ich täglich schreiben kann und der Austausch hilft mir sehr, mich zu sortieren und ist die schönere Alternative zu dieser Übung. Allerdings fühlt es sich für mich sehr erleichternd an, sie in der Hinterhand zu haben, wenn gerade niemand für mich verfügbar ist.
Viele liebe Grüße,
Julia