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Inner Relationship Focusing

Beschützer

(Lesezeit: ca. 15 Minuten)

Die Bestrebung, unsere Anteile in Kategorien einzuteilen und ihnen eingängige Namen zu geben, ist wohl ebenso alt wie das Denken über die Anteile selbst. Besonders vertraut ist uns wohl das Modell, das Siegmund Freud 1923 in der gleichnamigen Schrift „Das Ich und das Es“ veröffentlichte. In Freuds Strukturmodell der Psyche achtet das Über-Ich auf die Einhaltung von Werten und Normen, das Es ist das geheimnisvolle triebhafte Wesen in uns, und das Ich darf zusehen, wie es mit diesen Extremen zurecht kommt, während es sich bemüht, im Alltag irgendwie zu funktionieren.

Allgemein bekannt ist auch das Ich-Zustands-Modell der Transaktionsanalyse, in der zwischen Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kindheits-Ich unterschieden wird. Und hier stellen wir fest, dass die Zahl 3 bei solchen Modellen sehr beliebt ist. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wie zum Beispiel das eher offen gehaltene Innere Team von Friedemann Schulz von Thun (seht euch seine großartige Seite dazu an! Ich liebe die Darstellung des Burnout-Dreamteams!), doch die allermeisten Beispiele, die mir persönlich einfallen, arbeiten mit einer solchen ‚Dreieinigkeit‘.

Das Modell des Inner Relationship Focusings ist da keine Ausnahme. Hier heißen die Kategorien Protector (Beschützer), Defender (Verteidiger) und Small-One (das Kleine). (Anmerkung: da es derzeit noch keine offzielle Übersetzung der Begriffe gibt, verwende ich vorerst meine eigene) Am letzten Donnerstag ging es bei uns in der Ausbildung um die Beschützer und weil ich das Thema super-spannend finde und der Ansatz, den Ann Weiser Cornell und Barbara McGavin dort vorstellen, sich von allem unterscheidet, was mir bislang begegnet ist, möchte ich euch hier davon erzählen.

Karl Lauterbach
Einer meiner Beschützer sieht aus wie Karl Lauterbach (Ersteller/Lizenshaber des Bildes: Martin Kraft)

Lernen wir den Beschützer kennen

Grob gesagt entspricht der Beschützer wohl dem Über-Ich oder dem Eltern-Ich. Der gegenwärtig beliebteste Name ist der Innere Kritiker. Und wir müssen ihn nicht kennenlernen, wir kennen ihn alle. Das ist dieser ewige Nörgler, Besserwisser und Moralapostel, der uns sagt, was wir tun und lassen sollten. Die Stimme, die uns einflüstert, dass wir nicht gut genug sind und es niemals sein werden, das Gedankenkarussell, in dem wir uns unermüdlich drehen, das schlechte Gewissen, das uns bis in den Schlaf verfolgt, der verbissene Antreiber, der uns keine Pausen gönnt, bis wir irgendwann zusammenbrechen. Er ist die Enge, die unseren Hals, unsere Brust einschnürt und uns den Atem nimmt. Und dann googelt er auch noch die Symptome. Er macht uns fertig.

Allerdings muss es nicht immer die Peitsche sein. Manchmal ist es auch das Zuckerbrot. Das innere Lob, das Gefühl, ganz besonders toll, klug, herausragend zu sein, zumindest ein kleines bisschen besser als die anderen bedauernswerten armen, kleinen Würstchen, die nicht mit unserem Weitblick gesegnet sind und denen wir nur zu gerne aushelfen. Manche Beschützer haben immer einen guten Ratschlag parat („Kopf hoch, sieh’s mal positiv…“), und andere nehmen es mit den Zuckerbrot wörtlich („Gönn Dir das ruhig, das hast Du Dir verdient“).

Doch davon abgesehen, sind Beschützer alles andere beliebt und so verwundert es wenig, dass in den meisten Newslettern und Ratgebern, die ich im vergangenen Jahr zu dem Thema gelesen habe, dazu geraten wird, den sogenannten inneren Kritiker, zu zähmen, mit ihm zu diskutieren („Außerdem können wir dem negativen Erlebnis ein paar kleine und große Erfolge gegenüberstellen, die beweisen, dass wir eben kein „Versager“ sind“) oder ihm notfalls, vor allem dann, wenn wir der Kritik nichts Konstruktives abgewinnen können die Tür zu weisen („Zielt die Kritik jedoch lediglich darauf ab, Selbstwert und Selbstliebe zu untergraben, hat sie in unserem Leben nichts zu suchen.“ – Zitate: instahelp.me)

Den inneren Kritiker zu verbannen, erscheint sehr nachvollziehbar. Ich persönlich habe damit zwei Probleme:

  • Es funktioniert nicht. Zumindest bei mir. Das heißt, kurzfristig schon. Zum Beispiel kann ich dann, wenn sich der Kritiker meldet, mich auf meinen Atem konzentrieren und das so lange tun, bis es wieder ruhig ist in meinem Kopf. Doch sobald der Stress-Level steigt und ich einen Fehler mache, ist er – schwups – wieder da. Oder noch schlimmer: er gibt es tatsächlich auf, verbal meine Aufmerksamkeit zu erlangen und wird zu einem körperlichen Phänomen – zu einer Dauerverspannung in den Schultern, einem Gefühl ständiger Unruhe oder bleierner Müdigkeit.
  • Das zweite Problem wird deutlich, sobald wir uns in die Perspektive des Beschützers versetzen. Ich denke, wie alle kennen das Gefühl, wenn wir uns vor lauter Fremdschämen winden, wenn wir einen Kandidaten in einer Casting-Show erleben, der vollkommen talentfrei ist, hingegen vor Selbstbewusstsein strotzt und die Jury bepöbelt. Oder den Frust, den wir empfinden, wenn eine Freundin uns seit Monaten in den Ohren liegt, wie genervt sie von ihrem toxischen Partner oder ihrem furchtbaren Job sei… ohne in die Gänge zu kommen, etwas in ihrer Situation zu ändern. Ganz zu schweigen von der unbeschreiblichen Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn jemand, der uns am Herzen liegt, sich selbst verletzt oder Alkohol oder andere Drogen missbraucht.

    Wagen wir es dann, uns dann ein Herz fassen und das Thema auf den Tisch bringen… und die andere Person dann defensiv oder aggressiv reagiert, es schönredet oder sogar den Kontakt abbricht, möglicherweise für immer… das fühlt sich nicht gut an. Wir fühlen uns verletzt, nicht gehört, die Verbindung ist dahin und vielleicht überlegen wir sogar, aus Selbstschutz heraus unsererseits die Beziehung zu beenden.

    Wenn wir uns das durch den Kopf und den Bauch gehen lassen, können wir vielleicht nachvollziehen, wie es unserem Beschützer gehen mag, wenn er den Eindruck hat, dass wir gerade dabei sind, uns gefühlt vor der ganzen Welt lächerlich zu machen, er der Meinung ist, dass wir dringend etwas an unserer Lebenssituation, in der wir unglücklich sind, ändern sollten oder wir seiner Wahrnehmung nach bedenklich oft zu Suchtmitteln greifen. Wie er sich fühlt, wenn wir ihn dann abweisen. Mit dem Unterschied, dass er die Beziehung nicht beenden kann. Er ist ein Teil von uns, ob er und wir das wollen oder nicht.

Mein Zugerlebnis und seine Folgen

(Triggerwarnung: sexuelle Belästigung) Nun fällt es vermutlich relativ leicht, Mitgefühl mit Beschützern zu haben, deren Sorgen und Verhalten wir nachvollziehen können. Was (zumindest mir) deutlich schwerer fällt, ist, Verständnis dafür zu haben, wenn die Kritik schwer begründbar ist. Wenn ich schon in den Seilen hänge und mein ‚Beschützer‘ mich dennoch zum Weitermachen antreibt. Wenn ich mir alle Mühe gebe und es trotzdem nicht gut genug ist. Und besonders befremdlich ist es, wenn Beschützer Menschen attackieren, die zum Opfer der Handlungen anderer geworden sind. Von so einem Erlebnis möchte ich hier erzählen.

Als ich 19 Jahre alt war, pendelte ich regelmäßig mit dem ICE zu meinem damaligen Freund. Eines Tages, es geschah auf der Rückfahrt, saß ich dabei neben einem Mann. Er sprach mich an und wir plauderten freundlich miteinander. Unter anderem erzählte er mir von seiner Partnerin, die in der nächsten Stadt wohne und die er besuche. So weit, so gut. Und dann ergriff er meine Hand. Ich war überrascht, ließ es aber geschehen und sagte mir, dass es ihm vielleicht gerade nicht gut gehe und dieser Kontakt für ihn wohltuend sei… Tja und dann wanderten seine Hände zu meinen Brüsten und begannen, sie zu befühlen und zu drücken. Und was tat ich? Ich schrie nicht auf, ich sagte nicht „Stop“, ich sprang nicht auf… ich erstarrte und ließ es geschehen. Es war, als befände ich mich in einem Traum, vollkommen surreal. Ich glaube, Menschen sahen zu mir hin. Ich sah zurück und lächelte. Nur nichts anmerken lassen. Bald würden wir die nächste Station erreichen. Die, in der seine Partnerin wohnte. Dann würde es vorbei sein und alles wäre wieder gut.

Die nächste Station kam. Seine Partnerin stand am Gleis, lachte und winkte. Mir war übel. Der Gedanke kam, sie zu warnen. Keine Ahnung wie. Ich saß noch immer da, wie erstarrt. Er stand auf, grüßte freundlich und ging.

Zuhause erzählte ich es niemandem. Meinen Eltern nicht, aus Angst, dass sie mich dazu drängen könnten, Anzeige zu erstatten. Auch sonst niemandem. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei ist. War es natürlich nicht. Nicht in mir. Da war eine riesengroße Wut, die sich auf Männer richtete. Auch auf die, die mir nichts getan hatten. Das war ungerecht, fühlte sich jedoch irgendwie auch gut an. Ein bisschen wie Rache. Stärkend.

Gleichzeitig war da noch etwas anderes. Da war eine Stimme, die mich eine naive Ziege nannte, die sich im Zug befummeln ließ und dabei auch noch lächelte, anstatt nach Hilfe zu rufen. Wie bescheuert war das denn? Wie schwach, wie erbärmlich!

Heute weiß ich, dass es sich dabei um einen Beschützer handelte. Auch wenn sich das ganz und gar nicht wie beschützt-werden anfühlte. Im Gegenteil. Ich fühlte mich elend, wand mich unter den Vorfürfen und es kam mir so vor, als wäre da jemand, der mir immer wieder aufs Neue Salz in die Wunde streute. Und da mir das Wissen und das Werkzeug fehlten, um gut damit umzugehen, brauchte es Jahre und eine Reihe zufälliger, hilfreicher Impulse, bis die Attacken an Wucht verloren.

Bild von kATHRYN rOZIER auf Pixabay

Der neue Weg: Neugier und Mitgefühl

Heute begreife ich, dass ich Angst vor dieser Stimme hatte, die mich eine naive Ziege nannte. Oder besser gesagt: ich identifizierte mich mit etwas in mir, das Angst vor dieser Stimme hatte. Und ich habe den Eindruck, dass alle, die ihre Beschützer ‚innere Kritiker‘ nennen und mit ihnen diskutieren oder sie wegschicken wollen, das aus einem Zustand der Identifikation heraus tun.

Und genau hier liegt für mich das Geschenk, das mir Ann und Barbara mit ihrem Ansatz beim Inner Relationship Focusing machen. Dass er aus dieser Identifikation herausführt und so Veränderung möglich macht. Dabei gehen wir ungefähr folgende Schritte:

  1. Wann immer wir eine Stimme hören, die Kritik an uns äußert, nehmen wir uns Zeit für sie, sobald dies möglich ist. Das kann, muss aber nicht im Rahmen einer Focusing-Sitzung sein. Im Grunde ist jede Umgebung geeignet, in der man sich sicher fühlt und ungestört ist. Sei es im Lieblingssessel, bei einem Spaziergang oder während man geistig anspruchslose Hausarbeit verrichtet.
  2. In diesem Raum, den wir uns nehmen, begegnen wir der Stimme mit wohlwollender Neugier. Wir wollen sie kennenlernen. Herausfinden, wie wir sie wahrnehmen, wie sie klingt, welche Gestalt sie hat, welche Bewegung oder Geste mit ihr assoziiert ist. Was auch immer kommt.
  3. Bei den ersten Malen kann es sein, dass sie zurückhaltend ist. Sie ist gewohnt, nicht gemocht und abgelehnt zu werden und braucht vielleicht Zeit, um darauf zu vertrauen, dass wir jetzt wirklich für sie bereit sind.
  4. Wenn wir, also wir selbst und die jeweilige Stimme, dann bereit sind, hören wir ihr mitfühlend zu und interessieren uns dafür, welche Sorgen und Ängste sie bewegen. Wovor will sie uns beschützen? Was wünscht sie sich für uns? Wir versetzen uns in ihre Lage und spüren es von innen heraus.
  5. Und was, wenn wir das nicht können, weil wir wütend sind auf diese Stimme oder Angst vor ihr haben? Dann können wir uns dem in uns zuwenden, das Angst vor dieser Stimme hat und dem zuhören.

Wenn ich das damals schon gewusst und gekonnt hätte, hätte ich möglicherweise folgendes erfahren:

  • Wenn mich der Beschützer schwach und erbärmlich nannte, war es das, was er befürchtete, dass die (oder zumindest einige) Menschen denken würden, wenn sie erfahren würden, dass ich mich so tatenlos belästigen ließ. Diese Menschen, so seine Angst, würden dann jeglichen Respekt vor mir verlieren. Und vielleicht würde es sogar so weit gehen, dass manche versuchen würden, mich ebenfalls zu missbrauchen, weil sie wussten, wie schwach und wehrlos ich in Wahrheit war. Deswegen musste dieser Beschützer unbedingt dafür sorgen, dass ich mich so sehr schämte, dass ich meine Unfähigkeit, für meine Grenzen einzustehen, unter allen Umständen vor aller Welt verbergen würde.
  • Gleichzeitig richtete sich die Wut dieses Beschützers nicht gegen mich (das tut sie nie), sondern gegen andere Teile. Nämlich gegen den Teil, der damals vor Schreck erstarrte und auch gegen den Teil, der mir damals geraten hatte, zu lächeln. Der Beschützer wollte unbedingt, dass diese Teile sich ändern oder, wenn nicht anders möglich, verschwinden. Einfach weil sie in seinen Augen ein großes Sicherheitsrisiko darstellten. Das, was geschehen war, sollte unter keinen Umständen noch einmal geschehen.

Wenn ich das erst einmal wirklich verstanden hätte, hätte ich aufrichtig sagen können: „Kein Wunder, dass Du so panisch warst und Dich immer so deutlich bei mir gemeldet, um darauf aufmerksam zu machen!“ Und dann wäre es höchste Zeit gewesen, mich endlich dem Teil in mir zuzuwenden, der den Eindruck hat, dass es gefährlich ist, wenn ich für meine Grenzen einstehe und dass die Bedürfnisse und Wünsche der anderen schwerer wiegen als meine eigenen.

Soweit von mir. Solltest Du Interesse haben, mehr über Beschützer, Verteidiger und das Kleine zu erfahren, lade ich Dich ein, die ‚Untangling‘-Artikel von Ann und Barbara zu erkunden oder, solltest Du bereits fortgeschrittene Focuser sein, Dich über ihren Kurs zu informieren.

Ich bedanke mich herzlich für Deine Aufmerksamkeit und bin ich neugierig auf Dich und Deine Resonanz. Welche Gedanken, Gefühle und andere Eindrücke hast Du während des Lesens in Dir wahrgenommen? Falls Du sie teilen möchtest, kannst Du sie gerne in die Kommentare schreiben oder mir eine E-Mail (julia (at) focusing-reise punkt de) zuschicken.

Viele liebe Grüße,
Julia

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