Ein zentraler Begriff im Inner Relationship Focusing lautet Self in Presence (frei übersetzt: präsentes Selbst). Doch so zentral er auch ist, so kniffelig ist es, zu verstehen (und erklären), was er beutet.
Ganz am Anfang meiner Reise setzte ich (mit Hintergrund meiner Meditationserfahrung) diesen Zustand der Präsenz mit Achtsamkeit gleich. Also einen Zustand, in dem ich alles, was in mir geschieht, bewusst wahrnehme, ohne es zu bewerten. Neutral. Wie eine Kamera. Und es ist nicht ganz falsch. Es geht durchaus um bewusste Wahrnehmung… und ist zugleich viel mehr als das.
In ihrem Newsletter-Beitrag zum Thema ‚What is ‘Self-in-Presence’ anyway?‚ beschreibt Ann Weiser Cornell, wie sie und Barbara McGavin das Konzept des „Self in Presence“ entwickelt hatten, während sie mit ihren Themen (wie Sucht und Depression) arbeiteten. Bei diesen gewaltigen Themen und der hohen Emotionslast der einzelnen Teile – auf der einen Seite jene, die zutiefst verzweifelt über den gegenwärtigen Zustand waren und unbedingt eine Veränderung wollten, auf der anderen die, die die Arme verschränkten und ‚Nein, kommt gar nicht in Frage, dass ich das aufgebe! Ich brauche das!‘ riefen – wurde es ihnen bewusst, dass sie all das nur dann langfristig ändern können, wenn sie einen festen Stand haben, eine Basis, von der aus sie all dem begegnen können. Und um diesen ruhigen, interessierten Zustand, in dem sie sich dem, was ist, ruhig und interessiert zuwenden kann, suchten sie einen Namen dafür. Zunächst nannten die diesen Zustand „The Big I“ (das große Ich) oder „The Larger Self“ (das größere Selbst), später „Presence“ („Präsenz“) und schließlich eben „Self in Presence“ (wörtlich: ‚Selbst-in-Präsenz‘).
Meine eigene Erfahrung
Für den Fall, dass es Dir an dieser Stelle noch schwer fällt, nachzuvollziehen, was dieses Präsente Selbst nun eigentlich ist, wie es sich anfühlt, möchte ich Dir meine eigene Erfahrung damit wiedergeben.
Im Rahmen meiner eigenen Focusing Sitzung und auch im Alltag, wenn ich gerade merke, dass es mir nicht gut geht, ist das Präsente Selbst für mich eine Art Rolle, in die ich mich bewusst begebe. Rolle nicht im Sinne von ‚etwas vorspielen, was gar nicht da ist‘, sondern im Sinne einer Psychotherapeutin, die sich innerlich bereit macht, die erste Klientin zu empfangen, eine Telefonseelsorgerin zu Beginn des Dienstes oder eben eine Focusing-Begleiterin, die sich auf die bevorstehende Sitzung einstimmt. Heraus aus dem Alltags-Ich, hinein in einen ganz besonderen Teil meiner Selbst.
Wie fühlt sich das präsente Selbst an?
Das ist je nach Person und auch Situation zweifellos unterschiedlich, doch ich möchte an dieser Stelle einfach das schreiben, was mir in den Sinn kommt. Nach meiner Erfahrung ist das präsente Selbst:
- Ruhig
- Achtsam
- Sanft
- Aufrichtig
- Interessiert
- Wach
- Klar
- Warm
- Geduldig
- Mitfühlend
- Freundlich
- Vertrauensvoll
- Mutig
- Entschlossen
- Demütig (es hat keine eigene Agenda, sondern ist einfach für die anderen da)
- Respektvoll und Grenzen-achtend
- Raum-gebend
- Wertschätzend
- Annehmend
- Geborgenheit schenkend
- Bedingungslos liebend (auf eine nicht-sentimentale Art und Weise)
Die Liste ist nicht vollständig, doch ich denke, sie vermittelt einen ungefähren Eindruck der Eigenschaften die es verkörpert. Es ist, zusammenfassend, die ideale primäre Bezugsperson, die genau dem entspricht, was wir gerade brauchen.
Und das Besondere im Inner Relationship Focusing ist: dieses wunderbare Selbst ist nicht (nur) für andere da, sondern für uns selbst.
Wie können wir die Verbindung zum Präsenten Selbst stärken?
Nach meiner Wahrnehmung ist es mit der Präsenz mit wie so vielem – es ist kein binäres An/Aus, sondern mehr eine Skala, die zwischen diesem sagenhaften Ideal und einem Zustand der absoluten Überforderung, in dem es mir völlig unerreichbar vorkommt, liegt. Ich persönlich bin am Morgen, in der Annahme, dass ich so halbwegs gut geschlafen habe, meist näher beim präsenten Selbst als am Abend, wenn mich jeder Hindernis zwischen mir und der benötigten Ruhe so völlig aus der Fassung bringt, an Urlaubstagen mehr als in Phasen, in denen sehr viele Termine anstehen und so weiter.
Um mich (und auch Dich, wenn Du magst), daran erinnern, was mir hilft, für mich selbst und andere da zu sein, gebe ich mal eine Übersicht über das, was dabei hilft, die Verbindung zum Präsenten Selbst zu stärken.
Mit Menschen zusammen sein, die selbst eine gute Verbindung zum Präsenten Selbst haben
Auch wenn ich mich nicht intensiv mit der aktuellen Forschung dazu beschäftigt habe, gilt es meiner Wahrnehmung nach mittlerweile als gesicherte Erkenntnis, dass es für die psychische Gesundheit eines Kindes entscheidend ist, mindestens eine enge Bezugsperson zu haben, die zumindest teilweise die oben genannten Eigenschaften verkörpert, die also sanft, interessiert und zugewandt ist. Und wann immer wir es erleben, dass ein Mensch so für uns da ist, wird dieses Verhalten mit Hilfe unserer Spiegelneuronen (soweit ich weiß) ein Teil unserer Selbst und damit ein Schatz, auf den wir zurückgreifen können, um für uns selbst und andere da zu sein.
Doch auch als Erwachsene gibt es kaum etwas, das uns und unsere eigene Präsenz so sehr stärkt wie das Zusammensein mit Menschen, die selbst in Präsenz sind. Menschen, die sich Zeit für uns nehmen, um uns zuzuhören, uns zu umarmen, wenn wir gerade eine Umarmung brauchen, in deren geerdeter Gegenwart wir ebenfalls zur Ruhe kommen können, bei denen wir uns nicht schämen, uns ganz und gar zu zeigen, auch mit dem, was wir sonst vor anderen verbergen wollen, weil wir wissen, dass wir bei ihnen so sein dürfen, wie wir sind. Jemand, der wir ein Zuhause ist, in dem wir uns wohl und geborgen fühlen.
Dieser Mensch kann unser Partnerin oder jemand aus der Familie sein, eine Freundin, jemand, den wir einfach kennen, ein Therapeut oder eine psychologische Beraterin, ein Seelsorger oder eben eine Focusing-Begleiter oder -Partnerin.
In Phasen, in denen mir so jemand nicht zur Verfügung stehe, ich jedoch nicht die Stärke haben, um selbst in Präsenz zu sein, greife ich manchmal auf imaginäre Freunde zurück, die diese Rolle einnehmen. Dann stelle ich mir vor, Jesus oder Shyama-Tara, ein Charakter aus einem Buch oder Film, der mir gerade passend erscheint oder auch ein großer, gutmütiger Bär wäre bei mir und würde mir zuhören oder mir einfach erlauben, in seiner Gegenwart für den Moment klein und schwach zu sein und mich auszuweinen… so lange, bis ich mich bereit fühle, mich in die Rolle des Präsenten Selbst einzufühlen und diejenige zu sein, die für das in mir da ist, das sich so klein und verzweifelt fühlt.
Selbst für jemanden da sein
Ich möchte es nicht generalisieren (und kenne viele Gegenbeispiele)… doch mein grober Eindruck von meinen bisherigen Focusing-Partnerschaften ist der, dass es vor allem die Menschen sind, die Kinder haben, bei denen ich den Eindruck habe, dass es ihnen besonders leicht fällt, auf diese besondere Weise in Präsenz zu sein. Und ich selbst merke auch bei mir, dass der Umstand, dass ich selbst für meine Kinder so oft da bin, ihnen aktiv zuhöre, wenn sie von etwas erzählen, das sie beschäftigt, sie im Arm halte, wenn es ihnen nicht gut geht, ihre Freude teile und mich bemühe, ihnen ein Zuhause zu sein, das sie nach Belieben verlassen können und das ihnen immer dann zur Verfügung steht, wenn sie es brauchen… dass dies alles etwas ist, auf das ich zurückgreifen kann, wenn es Zeit ist, für mich selbst da zu sein. Es ist wie ein ständiges Training, das die Fähigkeit, sich mit dem Präsenten Selbst zu verbinden, stärkt.
Das müssen natürlich keine eigene Kinder sein… oder überhaupt Kinder… oder auch nur menschliche Wesen (ich persönlich denke dabei dabei daran, wie sehr ich mich mit diesem Präsenten Selbst verbunden fühle, wenn ich mit einer Katze zusammen bin). Wann immer wir uns Zeit für ein anderes Wesen nehmen, uns um es kümmern – so wir die Kapazität dafür haben und damit nicht überspielen, dass wir gerade selbst im Mangel sind – nehmen wir auch etwas für uns selbst mit, das uns zugute kommt, wenn wir für unsere inneren Anteile da sind.
Auch hilft es mir persönlich sehr, mich selbst anzunehmen, wenn ich von anderen höre, dass sie mit dem gleichen Thema zu kämpfen haben. Denn oft fällt es mir leichter, andere so zu akzeptieren, wie sie sind, als mich selbst… und so bildet das eine eine Art Brücke für das andere.
Besondere Orte, Gegenstände und Rituale
Für mich persönlich sind bestimmte Umgebungen ein wertvolles Hilfsmittel, um mich mit dem Präsenten Selbst zu verbinden. Zum Beispiel denke ich daran, dass ich nach dem Tod meiner Tochter erst dann so richtig weinen und der Trauer Raum geben konnte, als ich vom Krankenhaus aus nach Hause gekommen war und die Tür hinter mir schloss.
Und in anderen Situationen hilft es mir, raus zu gehen, in die Natur. Den Gesang der Vögel und das Rauschen der Blätter zu hören, Gras und Erde unter meinen Füßen und frische Luft auf meiner Haut zu fühlen. Oder die Weite des Meers um mich zu haben oder die Ruhe eines Sees. Oder ganz oben zu stehen und auf alles hinab sehen zu können. Oder an einem besonders gemütlichen Ort zu sein, vielleicht mit Kerzenlicht. Das alles kann mich und meine Verbindung zum Präsenten Selbst stärken, je nach dem, was ich gerade brauche.
Oft helfen mir auch bestimmte Gegenstände, vor allem die, die ich mit Menschen in Verbindung bringe, die für mich dagewesen sind. Oder Rituale. Das ist mit ein Grund, weshalb Focusing-Sitzungen für mich so hilfreich sind. Sobald ich vor dem Laptop sitze, meine Focusing-Partnerin sehe, wir die initialen Fragen besprechen und eine von uns die andere mit Hilfe des Körperscans in den Körper führt, ist es neben dem Körperscan auch die Wiederholung des Vertrauten, das mich vom Alltag in die Verbindung mit dem Präsenten Selbst geleitet. Etwas in mir weiß dann einfach: jetzt ist die Zeit für das Präsente Selbst gekommen.
Selbstfürsorge
Wie weiter oben erwähnt fällt es mir leichter, mit dem Präsenten Selbst verbunden zu sein, wenn ich mich wach und frisch fühle. Und überhaupt möchte ich mich hier daran erinnern, wie wichtig es ist, gut für sich selbst zu sorgen, also auf die ‚Basics‘ zu achten wie ausreichend Schlaf, gesundes Essen, (angenehme) Bewegung, Zeit mit Tätigkeiten verbringen, die einem Freude machen und so Auch wenn es manchmal einfacher klingt, als es in Wirklichkeit ist.
Sprache
Als jemand, die in Linguistik promoviert hat, ist sich Ann Weiser Cornell der Wirkung der Sprache voll bewusst und hat viel von diesem Wissen ins Inner Relationship Focusing eingebracht. Ich möchte das hier nur kurz anreißen, sehr viel mehr darüber findet ihr in den Kursen selbst.
Stell Dir eine Situation vor, über die Du Dich sehr geärgert hat. Sei es etwas, das auf der Arbeit passiert ist, etwas das Dein Partner oder Deine Kinder getan haben, etwas, über das Du etwas gelesen hast oder etwas völlig anderes. Was es auch ist, es regt Dich auf.
Nimm Dir Zeit, wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, dieses ‚Boah, das regt mich so auf! Ich bin richtig wütend!‘
Und dann probier aus, wie es sich anfühlt, zu sagen:
Etwas in mir ist wütend.
Vielleicht spürst Du, wie sich etwas in Deinem Körper verändert. Vielleicht siehst Du es auch vor Dir, dieses etwas, wie es die Fäuste geballt hat und mit dem Fuß auf dem Boden stampf. Dann probier folgendes:
Ich nehme wahr, dass etwas in mir wütend ist.
Spätestens da schlüpfe ich (und vielleicht auch Du) in die Rolle des Präsenten Selbst, sehe das, was sich wütend fühlt, vor mir und frage mich gleichzeitig, wie es mit mir zusammen sein will. Will es vielleicht erstmal, dass ich auf Abstand bleibe und ihm einfach nur Raum gebe? Möchte es, dass ich kurz auf mich und mein ‚Ich sehe Dich‘ aufmerksam mache, um ihm zu zeigen, dass es nicht alleine ist?
Und falls das noch nicht ausreicht, um den inneren Wandel zu vollziehen, möchte ich einen weiteren Satz empfehlen, die ich von Elmar Kruithoff mitgenommen habe:
Ich nehme mir Zeit für etwas in mir, das sich wütend fühlt
Spätestens da merke ich, dass ich das nicht en passant im Multi-Tasking-Modus machen kann. Dass es gut wäre, mich für ein paar Minuten hinzusetzen, um mich bewusst dem zu widmen, das da so aufgebracht ist. Vielleicht habe ich die gerade nicht. Vielleicht muss es für den Moment beim Wahrnehmen aus der Präsenz heraus bleiben, bei einem kurzen Nicken, einem ‚Ich sehe Dich‘ und vielleicht einer kurzen Notiz darüber, dass da etwas ist, für das ich mir Zeit nehmen will und ein paar Worte über den Auslöser. Doch bereits das macht meiner Erfahrung nach einen großen Unterschied, vollziehen wir damit doch den Schritt aus der Identifikation mit dem, was sich wütend fühlt heraus zu der Verbindung mit dem Präsenten Selbst. Unsere Perspektive hat sich verändert.
Soweit von mir
Ich merke, ich könnte noch endlos über das Thema schreiben, zum Beispiel über die Möglichkeit, über das Schreiben mit dem Präsenten Selbst verbunden zu sein und viele anderen kreative Wege, um sich in diesen Zustand begeben. Oder die Rolle, die Medien (Bücher, Filme…) als Unterstützung spielen können. Doch Hier und Jetzt möchte ich es dabei belassen und diejenige, die sich für dieses Thema besonders interessieren, auf den On-Demand-Kurs von Ann Weiser Cornell Self-in-Presence…and Parts hinzuweisen.
Ich hoffe, der Text war für Dich ebenso hilfreich wie für mich und freue mich auf Deine Rückmeldung. Entweder hier unten in den Kommentaren oder an julia (at) focusing-reise (punkt) de
Alles Liebe,
Julia